Die Bischofskanzlei und die „Tragik des Opferdaseins“

Die Folgen sexualisierter Gewalt in Kindheit und Jugend können häufig ein Leben lang anhalten. Manchmal sind sie einige Jahre oder Jahrzehnte weniger stark ausgeprägt oder die Betroffenen können sie ausgleichen, weil sie auf andere Resourcen zurückgreifen können. Dennoch ist festzuhalten: Viele Betroffene entwickeln langfristige gesundheitliche Schädigungen, wie z.B. posttraumatische Belastungsstörungen (PTBS) oder auch Somatisierungen, also körperliche Folgen, oder auch Folgen im sozialen Miteinander (Vertrauensverlust u.ä.).

Viele Formen der sexualisierten Gewalt sind Straftaten, die aber von der Kirche nicht aufgehalten wurden. Andere sind vielleicht unter der Grenze der Strafbarkeit, können aber genauso lebenslange Folgen haben.

In der Regel wünschen sich Betroffene Genesung von den Schädigungen, welche die Gewalt hervorgerufen hat – und wenn keine vollständige Genesung, dann doch zumindest eine Linderung.

Man würde erwarten, dass die evangelische Kirche dieses Ziel teilt. Schließlich sind die Betroffenen geschädigt, weil sie in der Kirche Gewalt erlebt haben – in einem Raum, der eigentlich sicher sein sollte. Ob aktiv vertuscht wurde, Täter geschützt oder man einfach nicht „verstanden“ hat, was die Täter eigentlich gerade mit den Kindern oder Jugendlichen machten: Es wäre absolut notwendig, die Betroffenen so gut es geht in ihrer Genesung zu unterstützen.

Doch zumindest 2016 war dieser Gedanke noch nicht wirklich in der Bischofskanzlei angekommen. Im Gegenteil, die langfristigen Auswirkungen der Gewalt wurden bagatellisiert – und sogar gegen eine betroffene Person gerichtet.

Diese hatte sich an das Landeskirchenamt mit einem Hilfegesuch gewandt. Doch die Bischofskanzlei lehnte dies ab – beschrieb das Ablehnen des Hilfegesuches aber als etwas, das tatsächlich der betroffenen Person helfen könnte:

Diese Klarheit hilft vielleicht auch [Name des*r Betroffenen] ein wenig aus diesem ewigen Kreislauf von neuem Opferdasein, der an Tragik ja erschütternd ist, aber andere Hilfe braucht als eine Landeskirche sie geben kann.1

Was passiert in dieser Kommunikation?

  • Die Ablehnung des Antrags auf Hilfe wird als „Klarheit“ bezeichnet – nicht als Härte oder Mangel an Verantwortungsbewusstsein und Empathie oder gar einfach der Unwillen, an dieser Stelle finanzielle Mittel bereitzustellen.
  • Die Ablehnung der Hilfe wird als eigentliche Hilfe verdreht.
  • Die betroffene Person wird als gefangen in einem „ewigen Kreislauf von neuem Opferdasein“ diskreditiert.
  • Dieses „Opferdasein“ scheint allein in der betroffenen Person begründet und nichts mit der Gewalterfahrung zu tun zu haben, die ja in der Landeskirche geschehen sind.
  • Die Verantwortung der Landeskirche wird abgelehnt („andere Hilfe, als eine Landeskirche sie geben kann“).

Diese Kommunikation der Bischofskanzlei ist nicht die einzige, die uns vorliegt. Andere zeichnen ein ähnliches Bild.

Wenn Bischof Meister nun also allenthalben „Kulturwandel“ fordert, dann ist dieser zuallererst in seiner eigenen Kanzlei anzusiedeln.

  1. Mail der Kanzlei des Landesbischofs Ralf Meister vom 21.09.2016 an das Landeskirchenamt. Die Mail liegt der Initiative vor. ↩︎
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