Betroffenenzahlen nennen – noch nie eine Stärke der Landeskirche

„Das Ausmaß ist nicht erschütternd.“

Dies waren die Worte des stellvertretenden Landesbischofs Hans-Hermann Jantzen im Mai 2010, als die Landeskirche Hannovers ihre neue Hotline für Betroffene von sexueller Gewalt vorstellte. Zeitgleich machte die Landeskirche fünf verjährte Fälle von sexueller Gewalt aus dem Zeitraum der 1960er Jahre bis 1984 bekannt; alle verjährt. „Wir wollen damit so offen und transparent wie möglich umgehen“, sagte Jantzen.1 2

Wie viele Fälle müssen es wohl sein, damit ein stellvertretender Landesbischof zumindest ein wenig Erschütterung spürt? Zehn? Zwanzig? Fünfzig? Und wie viele, damit die Erschütterung Auswirkungen hat?

Hinter jedem einzelnen Fall steckt großes Unrecht – schädigendes Verhalten Kindern und Jugendlichen gegenüber, die der Landeskirche und ihren Mitarbeitenden vertrauten. Und auch damals wusste man, dass es bei dieser Art von Verbrechen ein besonders großes Dunkelfeld gibt.

Eines ist jedenfalls klar: Transparent ging Jantzen mit dem Thema nicht um. Die Landeskirche veröffentlichte in den Jahren bis 2010 nur wenige Fälle sexualisierter Gewalt – obwohl deutlich mehr bereits bekannt waren.

Denn im Fallkomplex Burgwedel/Nordholz gab es 45 Betroffene. Der Landeskirche war das seit 2002 nachweislich bekannt, da es hier eine rechtskräftige Verurteilung des Täters gegeben hatte. Mit den fünf neu genannten Fällen aus dem Jahr 2010 waren das also schon mindestens 50 Betroffene.3

Man kann also nur schließen, dass auch 50 betroffene Personen bei der Kirchenspitze nicht für Erschütterung sorgten – und dass der Wille zur Transparenz wohl doch nicht so ausgeprägt war.

Man könnte zynisch behaupten: Die große Betroffenheit der Landeskirche aus dem Januar 2024, als die ForuM-Studie vorgestellt wurde und eine Gesamtzahl der Betroffenen von 122 genannt wurde, erscheint gemessen an 2010 fast schon übertrieben4.

Aber auch diese Zahl stimmte nicht; im Juli 2024 räumte die Landeskirche ein, dass es wohl doch mindestens 190 Betroffene gäbe.

So musste die Landeskirche mit einer Salamitaktik die Zahl der ihr bekannten Betroffenen immer weiter erhöhen. Wie viele Betroffene sind ihr aber tatsächlich noch bekannt? Und wann können sich Betroffene, Öffentlichkeit und Kirchenmitglieder wirklich sicher sein, dass die Landeskirche Hannovers endlich transparent und ehrlich kommuniziert, was sie über die Zahl der Betroffenen weiß?

  1. vgl. Fünf neue Missbrauchsfälle in hannoverscher Landeskirche, evangelisch.de, 18.05.2010 (externer Link) ↩︎
  2. vgl. Evangelische Kirche meldet verschwiegene Missbrauchsfälle, kreiszeitung.de, 18.05.2010 (externer Link) ↩︎
  3. vgl. Kirche geschockt: Diakon missbrauchte 45 Kinder, WELT, 30.03.2002 (externer Link) ↩︎
  4. vgl. Sexualisierte Gewalt: „Wir haben als Kirche vielfach versagt“, NDR, 29.01.2024 (externer Link) ↩︎
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