Anerkennungszahlungen – Willkür nach Gutdünken

Die Folgen von sexualisierter Gewalt bei Betroffenen halten oft ein Leben lang an. Als Ausgleich für das erlittene Unrecht bzw. als „Anerkennung des erlittenen Leides“ können Betroffene Anerkennungszahlungen erhalten. Für diese müssen sie zunächst einen langen Antrag ausfüllen. Dann warten sie, bis eine Kommission1 entscheidet. Wie viel wird ihnen zugesprochen? Wird die Summe zumindest im Ansatz widerspiegeln, was die Betroffenen erlebt haben und was die Kirche und die Diakonie nicht verhindert haben?

An dieser Stelle wünschen sich Betroffene Transparenz. Auch die Öffentlichkeit hätte ein Anrecht, darüber informiert zu werden, wie eine Institution, der viele Menschen auch heute noch ihre Kinder täglich anvertrauten, mit der Anerkennung sexualisierter Gewalt umgeht.

Doch: Es ist unfassbar schwer, Informationen zu den Anerkennungsleistungen und den genauen Voraussetzungen für ihre Bemessung zu bekommen. Tatsächlich tut die Kirche alles, um den gesamten Prozess möglichst undurchsichtig zu machen.

Was sind die Bedingungen, um eine Anerkennungszahlung zu erhalten?

Wo kann man überhaupt Informationen zu den Zahlungen finden? Es gibt keine Überblicksseite dazu. Vereinzelt finden sich dennoch Informationen. So gibt die Ordnung der Anerkennungskommission der evangelischen Kirchen in
Niedersachsen und Bremen einige Anhaltspunkte:

Grundsätze einer Leistung in Anerkennung erlittenen Unrechts:

  • Anerkennungsleistungen sind freiwillige Leistungen. Sie werden einmalig und ohne Anerkennung einer Rechtspflicht gezahlt. Der Rechtsweg ist ausgeschlossen.2

Voraussetzung für Anerkennungsleistung:

  • erfahrene sexualisierte Gewalt in der Kirche oder Diakonie3
  • institutionelles Versagen bei Kirche oder Diakonie4
  • Durchsetzung von Schadensersatz oder Schmerzensgeld gegen verantwortliche Person nicht mehr möglich oder nicht zumutbar5
  • die betroffene Person kann den Sachverhalt plausibel darlegen6

Institutionelles Versagen wird vermutet wenn:

  • bei sexualisierter Gewalterfahrung durch Beschäftigte von Kirche oder Diakonie in Räumen von Kirche oder Diakonie7
  • bei sexualisierter Gewalterfahrung durch Beschäftigte von Kirche oder Diakonie im Rahmen eines Abhängigkeitsverhältnisses, das durch die berufliche Tätigkeit des Täters zustande kam8
  • bei sexualisierter Gewalterfahrung durch ehrenamtlich Beschäftigte von Kirche oder Diakonie und wenn Kirche oder Diakonie der Tat Vorschub geleistet, diese begünstigt oder nicht mit geeigneten Maßnahmen verhindert hat9

Die Höhe der Zahlungen soll sich an Schmerzensgeldzahlungen die von Gerichten in vergleichbaren Fällen zuerkannt werden richten; weiter sollen sie „in der Regel“ zwischen 5.000 € und 50.000 € liegen.10

Wie viel wurde nun aber gezahlt? Und an wen?

Aus den vereinzelten Angaben in verschiedenen Quellen lassen sich recht unterschiedliche Informationen finden.

1. Aus einer Chronik „Sexualisierte Gewalt in der
Evangelisch-lutherischen Landeskirche Hannovers“
 geht folgendes hervor:11

  • Im Zeitraum von 2012 bis Juni 2021 seien insgesamt zwischen 1.500.000 € und 2.000.000 € gezahlt worden.
  • Die Zahlungen lagen zwischen 2.500 € und 37.500 €.
  • 16 Fälle aus Kirchengemeinden seien entschieden worden.
  • 114 Fälle aus der Diakonie seien entschieden worden.
  • Bis zum Jahr 2013 habe es 56 Anträge gegeben; davon fünf aus der Kirche.
  • Der Rest käme aus der Diakonie, die Hälfte der Diakonie-Fälle aus Freistatt und dem Stephansstift
  • Bis 2013 habe es Entscheidungen über 26 Anträge gegeben, 300.000 € wurden insgesamt ausgezahlt

2. Der ehemalige Richter Klaus-Peter Schmidt-Vogt war Vorsitzender der „Unabhängigen Kommission der Ev.-luth. Landeskirche„, die von 2012 und 2020 tätig war. In einem Leserbrief an die HAZ schrieb der 2024:12

  • Im Zeitraum von 2012 bis 2020 habe die Kommission 121 Anträge geprüft; 110 Anträge seien auf die Landeskirche Hannovers entfallen
  • Im Zeitraum 2012 bis 2020 seien Anerkennungsleistungen in Höhe von 2.500 € bis 35.000 € gezahlt worden
  • Im Zeitraum 2012 bis 2020 seien insgesamt mehr als 1.600.000 € ausgezahlt worden

3. Hanspeter Teetzmann, Vorsitzender der aktuell tätigen Anerkennungskommission der evangelischen Kirchen in Niedersachsen und Bremen, teilte dem Landeskirchenamt im Juli 2024 folgende Informationen mit:13

  • Bis Ende 2013 habe die Anerkennungskommission in 51 Fällen Leistungen bewilligt
  • Bis Ende 2013 habe die Anerkennungskommission in vier Fällen Leistungen in der Höhe zwischen 26.000 € und 31.000 € gezahlt. Diese vier Fälle seien Fälle aus Kinder- und Jugendheimen gewesen, in denen es „massiven sexualisierten Missbrauch“ gegeben hätte

4. Die sogenannte Fachstelle der Landeskirche Hannovers teilte im August 2024 mit, dass im Zeitraum vor der ForuM-Studie 13 Anträge auf Anerkennungsleistungen für der Bereich der Verfassten Kirche gestellt worden wären. Die anderen Anträge hätten sich auf die Diakonie bezogen.14

Wir finden also Angaben zu verschiedenen Zeiträumen. Was auffällt: Die Fachstelle gibt 2024 nur 13 Fälle aus der verfassten Kirche an, während sie 2021 noch von 16 Fällen sprach.

Beispiele für Zahlungen an Betroffene

Unserer Initiative liegen verschiedene Informationen zur Höhe von Zahlungen vor:

35.000 € für eine Betroffene, die ab dem 14. Lebensjahr über zehn Jahre durch einen Pastor sexualisierte Gewalt erfahren hatte.15

25.000 € für einen Betroffenen, der über 17 Monate bei insgesamt ca. 30 Taten schweren sexuellen Missbrauches von Kindern gemäß § 176c StGB und sexuellen Missbrauch von Schutzbefohlenen gemäß § 174 StGB in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von Jugendlichen gemäß § 182 StGB durch einen Diakon erfahren musste.16

7.500 € für einen Betroffenen, der vier Jahre in einem Wohnheim der Landeskirche Hannovers gewohnt hat. Er war über die Zeit seines Aufenthaltes jede Woche mehrfach den sexuellen Übergriffen eines Heimerziehers ausgesetzt.17

2.500 € für einen Betroffenen, der während seines Konfirmandenunterrichts körperliche Annäherungen und Übergriffe mit sexuellem Gehalt durch den Pastor erfahren hatte. Der Fall wurde von der unabhängigen Kommission als „individueller Härtefall“ eingestuft.18

Schön gezahlt und alles gut?

Nein!

Bemerkenswert ist es beispielsweise, dass sexualisierte Gewalt die von ehrenamtlichen Kirchenmitarbeitern ausgegangen ist, im Vergleich zur sexualisierter Gewalt die von hauptamtlichen Kirchenmitarbeitern ausgegangen ist, nur unter erschwerten Voraussetzung gezahlt werden.

Weiter scheint die Kirche nur dann zahlen zu wollen, wenn ein Täter nicht Zahlt. Die Kirche übernimmt dann sozusagen die Verpflichtung des Täters. Warum? Gute Frage. Vielleicht, weil die Kirche keine eigene Schuld einräumen will?

Naturgemäß ist es sehr schwierig die schwere eines Falls zu bewerten und mit einer Zahl zu versehen.

Schon die beschriebenen Fälle zeigen, dass die Höhe der Zahlungen sehr unterschiedlich sind und scheinbar nichts mit der „Schwere“ einer tat zu tun haben. Die Vorgabe, sich an Schmerzensgeldzahlungen zu orientieren, scheinen ignoriert zu werden. In Fällen in denen es weder ein Strafverfahren noch ein Schmerzensgeldverfahren gegeben hat, ist es praktisch unmöglich sich an Schmerzensgeldern aus verschiedenen Jahren bei angeblich ähnlichen Fällen zu orientieren.

Das Verfahren um Anerkennungszahlungen bei der Landeskirchliche Hannovers ist nicht mit einem Verfahren in einem Rechtsstaat zu vergleichen. In einem rechtsstaatlichen Verfahren gäbe es öffentliche einsehbare Kriterien nach denen die Kommission entscheiden müsste. Weiter gäbe es ein Widerspruchsverfahren.

Geht es auch anders?

Im evangelischen Bereicht:
Einer Betroffenen, die als Pastorentochter sexualisierte Gewalt von ihrem Vater erleiden musste, hat im Jahr 2023 130.000 € von evangelischen Kirche in Hessen und Nassau erhalten.19

Im katholischen Bereich:
Ein Betroffener, der in den 1970er Jahren mehrere hundert Male durch einen Priester missbraucht wurde, verklagte das Erzbistum Köln auf Schmerzensgeld. Ihm wurden 300.000 € zugesprochen.20

  1. https://praevention.landeskirche-hannovers.de/Fuer-Betroffene/AKo (externer Link) ↩︎
  2. § 5 (1) Ordnung der Anerkennungskommission der evangelischen Kirchen in
    Niedersachsen und Bremen
    vom 1. Mai 2022
     (externer Link) ↩︎
  3. § 3 (1) Ordnung der Anerkennungskommission der evangelischen Kirchen in
    Niedersachsen und Bremen
    vom 1. Mai 2022
     (externer Link) ↩︎
  4. § 3 (2) Ordnung der Anerkennungskommission der evangelischen Kirchen in
    Niedersachsen und Bremen
    vom 1. Mai 2022
     (externer Link) ↩︎
  5. § 3 (1) Ordnung der Anerkennungskommission der evangelischen Kirchen in
    Niedersachsen und Bremen
    vom 1. Mai 2022
     (externer Link) ↩︎
  6. § 3 (3) Ordnung der Anerkennungskommission der evangelischen Kirchen in
    Niedersachsen und Bremen
    vom 1. Mai 2022
     (externer Link) ↩︎
  7. § 3 (2) a) Ordnung der Anerkennungskommission der evangelischen Kirchen in
    Niedersachsen und Bremen
    vom 1. Mai 2022
     (externer Link ↩︎
  8. § 3 (2) b) Ordnung der Anerkennungskommission der evangelischen Kirchen in
    Niedersachsen und Bremen
    vom 1. Mai 2022
     (externer Link) ↩︎
  9. § 3 (2) c) Ordnung der Anerkennungskommission der evangelischen Kirchen in
    Niedersachsen und Bremen
    vom 1. Mai 2022
     (externer Link) ↩︎
  10. § 5 Ordnung der Anerkennungskommission der evangelischen Kirchen in
    Niedersachsen und Bremen
    vom 1. Mai 2022
     (externer Link)  ↩︎
  11. Diese Chronik war in der Vergangenheit auf der Seite der Landeskirche abrufbar, mittlerweile ist sie nicht mehr zu finden. Sie liegt der Initiative vor. vgl. Pressestelle der Landeskirche Hannovers: Sexualisierte Gewalt in der
    Evangelisch-lutherischen Landeskirche Hannovers, Juni 2021 ↩︎
  12. Klaus-Peter Schmidt-Vogt: Meister veranlasste Einrichtung eines Beirats. Leserbrief, HAZ, 10.07.2024 ↩︎
  13. Hanspeter Teetzmann: Antwort auf Anfrage. Juli 2024. Das Schreiben liegt der Initiative vor ↩︎
  14. Sogenannte Fachstelle der Landeskirche Hannovers; Gespräch unter 2 ↩︎
  15. vgl. Pastor belästigte und missbrauchte Teenager, fink.hamburg 06.07.2020 (externer Link) ↩︎
  16. Entscheidung der Unabhängige Kommission zur Prüfung von Leistungen in Anerkennung des Leids an Opfer sexualisierter Gewalt der Landeskirche Hannovers vom 05.12.2012 ↩︎
  17. Entscheidung der Unabhängige Kommission zur Prüfung von Leistungen in Anerkennung des Leids an Opfer sexualisierter Gewalt der Landeskirche Hannovers vom 05.12.2012 ↩︎
  18. Entscheidung der Unabhängige Kommission zur Prüfung von Leistungen in Anerkennung des Leids an Opfer sexualisierter Gewalt der Landeskirche Hannovers vom 05.12.2012 ↩︎
  19. vgl. Missbrauch: Evangelische Kirche zahlt Pfarrerstochter 130.000 Euro, Kirche und Leben 18.01.2024 (externer Link) ↩︎
  20. vgl. Im Schmerzensgeld-Prozess gegen das Erzbistum Köln legt Kläger keine Berufung ein, WDR, 26.07.2023 ↩︎

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